Bitte nicht helfen

“Bitte nicht helfen. Das Leben ist so schon schwer genug.“

Einen solchen Spruch hat ein Kollege an seiner Tür hängen.
Wie kommt er dazu? Ist es nicht was Schönes, wenn einem geholfen wird? Und wieso soll das Leben dann schwerer sein?

Nun ja, jede und jeder haben schon Erfah­rungen gesammelt, bei der sie eine „Hilfe“ als unangenehm erlebt haben. Häufig sind es gut gemeinte Ratschläge. Manchmal von Eltern an ihre erwach­senen Kinder: „Du solltest dir was anziehen. Esse doch noch was, sonst hast du nachher Hunger. Gib den Kindern nicht so viel Süßes“ und so weiter.

Was ist das Unange­nehme an diesen Hilfe­stel­lungen? Sie meinen es doch gut mit uns.

Bei genauerer Betrachtung erkennen wir die Abwertung, die in diesen Ratschlägen schlummert, denn jede Hilfe beruht auf einer Bewertung. „Da ist einer, der braucht mich!“ Der ist nicht in der Lage sein Leben selbständig gut und ordentlich zu führen.

Wenn ein Mensch in einer objek­tiven Notlage ist, stimmt diese Bewertung ja tatsächlich. „Der braucht mich“. Und wir sind dann dankbar, wenn sich einer um uns kümmert. Zudem gibt es auch genügend Beispiele, wo Menschen in einer offen­sicht­lichen Notlage sind und ihnen niemand hilft. Das ist dann bitter.
Aber genau bei diesem Bewer­tungs­vorgang liegt der Hund begraben:
Zahlreiche Menschen haben eine innere Grund­aus­richtung die ihnen vorgibt, sie müssten für einen gelin­genden Bezie­hungs­aufbau Anderen hilfreich zur Seite stehen.

Woher kommen solche Grund­aus­rich­tungen?
Von dort, wo alle Denk‑,Fühl- und Verhal­tens­muster grund­legend angelegt werden: aus dem “Trainings­lager Elternhaus”.
Teils dienen ein oder beide Eltern­teile als Vorlage. Das Kind schaut sich ab, wie Papa oder Mama Beziehung machen. Teils “entscheiden” sich Kinder dafür, dass sie für andere zuständig seien, weil aus ihrer kindlichen Weltsicht triftige Gründe vorliegen. Etwa wenn Mama als krank, leidend, benach­teiligt oder sonst wie hilfs­be­dürftig erlebt wird.
In der Verall­ge­mei­nerung werden alle Menschen als hilfs­be­dürftig dekla­riert. Im späteren Bezie­hungs­ver­halten werden sämtliche “Bedürf­nisse” des Gegen­übers erahnt und schon mal befriedigt, bevor der Andere überhaupt bemerkt hat, dass er ein Bedürfnis haben könnte.
Für manche Menschen ist es toll auf so jemanden zu treffen. Sie senden ihrer­seits schon leise oder lautere Signale der Bedürf­tigkeit aus, und wenn jemand darauf anspringt, ergibt sich für beide eine “erfül­lende” Symbiose. Einer, der etwas zu viel Verant­wortung übernimmt, mit einem, der etwas zu wenig Verant­wortung übernimmt, ergibt eine Paarung, mit der beide zunächst hoch zufrieden sind. Topf und Deckel haben sich gefunden. Und wenn sie nicht gestorben sind…

Leider geht es selten aus wie im Märchen. Irgendwann will der Deckel selbst Topf sein oder der Topf hat vom ständigen Verant­wor­tungs­eintopf die Nase voll. Dann wird die Symbiose mit vielen Schmerzen in die Brüche gehen oder es gelingt ein konflikt­reicher Neubeginn mit stimmiger Verant­wor­tungs­ver­teilung.

In einer Kindpo­sition fest genagelt zu sein, ist auf Dauer, für einen Menschen, der sich entwi­ckeln will oder der sich entwi­ckelt hat, unerträglich.

Im Erleben dessen, dem “geholfen” wird, entsteht eine unange­nehme Zwick­mühle. Will er die “Hilfe” des Gegen­übers zurück weisen, könnte dies zu einem Bezie­hungs­kon­flikt oder gar zu einem Bezie­hungs­ab­bruch führen. Lässt er den Anderen gewähren, muss er die darin liegende Abwertung schlucken. Schon deshalb enden solche Bezie­hungs­muster meist “plötzlich”, weil das Fass mit dem letzten Tropfen jetzt überge­laufen ist.

In der alltäg­lichen Kommu­ni­ka­ti­ons­er­fahrung liegen die Dinge meist nicht so klar auf der Hand. Subtil sind die Signale der “Hilfs­an­gebote” und der “Bedürf­nisse”. Auf leisen Sohlen schleicht sich ein oben und unten in die Bezie­hungs­kon­stel­lation ein. “Die Kollegin kann ich immer ansprechen. Selbst wenn sie Land unter ist, ist sie noch für mich da”. “Der Kollege Meier gibt mir immer noch einen seiner Hinweise mit. Der glaubt wohl, ich bin zu früh aus dem Nest gefallen”. “Meine Chefin erklärt mir ständig, dass sie mir unter die Arme greifen kann, wenn ich sie brauche. Die hat’s wohl nötig gebraucht zu werden”.

So oder so ähnlich können sich Indizien für ungleiche Bezie­hungs­an­bahnung anhören.

Bei Verliebten ist es noch etwas subtiler. Dort sind die Betei­ligten extrem darauf ausge­richtet “wie hätte der Andere mich gern”. Und wenn Aschen­puttel ihren Prinz trifft, findet die Verliebtheit keine Grenzen mehr.

Zurück zum Alltag der Kommu­ni­kation. Je nach Selbst- und Fremd­ein­schätzung sollten Sie sich eine Idee bilden, zu welcher Neigungs­gruppe der Bezie­hungs­an­bahnung Sie gehören.
Eher zu denen die gerne geben — oder eher zu jenen, die glauben, Beziehung gelinge am ehesten, wenn man nimmt.

Beziehung auf Augenhöhe verzichtet auf ein Oben oder Unten. Bedürf­tigkeit kann ausge­sprochen werden und muss nicht erahnt werden. Und wenn Menschen echt in Not sind, ist das in der Regel gut zu erkennen.

Also im Normalfall: „Bitte nicht helfen, das Leben ist so schon schwer genug!“

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